Im Wortlaut von Dietmar Bartsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. Juli 2019
Soll der Bundestag nach 30 Jahren in die Treuhandakten schauen? Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, erklärt in seinem Gastbeitrag warum das eine Frage des Respekts gegenüber Millionen Menschen ist. Gastbeitrag von Dietmar Bartsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Unfug“, sagt der frühere Finanzminister Waigel. Thilo Sarrazin, seinerzeit für die Treuhandaufsicht im Finanzministerium zuständig, findet es „albern“, dass der Bundestag nach 30 Jahren in die Treuhandakten schauen soll. Der Zuspruch, der mich dagegen vor allem aus Ostdeutschland erreicht, spricht eine andere gänzlich Sprache. Die Treuhand ist eine offene Wunde in der ostdeutschen Gesellschaft.
Wie die Historiker Goschler und Böick der Uni Bochum feststellen, ist die Wahrnehmung und Bewertung der Treuhand in Ostdeutschland eine Art „erinnerungspolitische Bad Bank“. Sie ist tatsächlich die Bad Bank der deutschen Einheit und der Kardinalfehler des wiedervereinigten Landes. Natürlich war der Zustand der DDR-Wirtschaft vielfach marode, aber dieses Argument trägt nicht, denn dann hätte die Treuhand den Zustand verbessern müssen. Aber ihre Bilanz ist verheerend. Die Treuhandpolitik war – besonders in der Art und Weise, wie Dinge durchgesetzt wurden – die Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln. So hätte „West“ mit „Ost“ niemals umgehen dürfen.
Viele individuelle und die gesellschaftlichen Wunden sind nicht geheilt. Wer auch die emotionale Einheit nach 30 Jahren vollenden will, muss noch einmal zurückschauen. Dafür brauchen wir eine parlamentarische Untersuchung, ohne die eine notwendige wissenschaftliche Aufarbeitung unzureichend bleibt. Ein Untersuchungsausschuss kann entscheidende Akten in kurzer Zeit anfordern und die politisch Verantwortlichen von damals vorladen. Niemand behauptet, dass Arbeitsplätze zurückkommen. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber man muss Erfolge als Erfolge, aber auch Fehler als Fehler benennen. Dies muss im Bundestag geschehen und nicht allein an Universitäten. So ließe sich die erinnerungspolitische Bad Bank der Einheit abwickeln und die gesamtdeutsche Gesellschaft emotional in Sachen Treuhand befrieden.
Als Geschäftsführer des zweitgrößten Verlages der DDR habe ich die Arbeit der Treuhandanstalt in der Verlagsbranche persönlich erlebt. Bemerkenswert war besonders die Privatisierung der 15 ehemaligen Bezirkszeitungen der SED, die übrigens alle bis heute am Markt sind. Sue wurden zwischen den großen Verlagen der Bundesrepublik aufgeteilt. Natürlich haben diese Verlage investiert, haben die Zeitungen und Druckereien modernisiert, aber eigentlich waren es „Geschenke“.
Die politische Einflussnahme aus Bonn war in der Verlagsbranche augenfällig, in den meisten anderen Bereichen hielt sich das für die Treuhandaufsicht zuständige Finanzministerium jedoch augenfällig zurück. Wer heute die Berichte des Bundesrechnungshofes aus den 1990er Jahren liest, hätte einige Fragen an die ehemalige Leitung des Hauses. Der Bundesrechnungshof beschreibt ein Komplettversagen des Finanzministeriums. Einerseits wurde die Führungsebene der Treuhand von der Haftung selbst bei grob fahrlässigem Handeln befreit, andererseits überließ das Ministerium die Treuhand sich selbst. 1993 befanden die Rechnungsprüfer, das Finanzministerium werde seiner „politischen und finanziellen Verantwortung nicht gerecht“.
War es Überforderung in politisch bewegten Zeiten oder wollte man in Bonn nicht genau wissen, was bei der Treuhand vor sich geht? Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss, in dem Waigel, Sarrazin und andere erklären, warum sie der Treuhand nicht auf die Finger geschaut haben. Sarrazin sagte 2010 über seine damalige Aufgabe im Finanzministerium: „Jetzt wickeln wir das ganze Zeug möglichst schnell ab.“ Falls dies die politische Vorgabe des Ministeriums war, hätten wir eine ganz andere Dimension. Denn das Plattmachen der ostdeutschen Industrie war mitnichten der gesetzliche Auftrag der Treuhand. Ja, sie sollte privatisieren, aber die „Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herstellen und somit Arbeitsplätze sichern und neue schaffen.“ Diesen Auftrag hat sie definitiv nicht erfüllt. Aber wurde dies geduldet oder befördert? Viele Fehlentscheidungen hätten mit einer funktionierenden Aufsicht des Ministeriums verhindert werden können. Die Aufsichtsverweigerung hat Arbeitsplätze und Zukunftsperspektiven im Osten zerstört. Es ist eine Frage des Respekts gegenüber den Millionen Menschen, die damals ihren Job verloren, diese Zeit im Parlament aufzuarbeiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. Juni 2019